ich habe in den letzten 3 Monaten sehr viel von den vielen Beiträgen in diesem Forum profitiert und möchte heute Etwas zurückgeben.
Vielleicht hilft es dem einen oder anderen, seine Ängste ein wenig zu bändigen.
Schon seit meiner Jugend plagen mich immer wieder Ängste eine schlimme Krankheit haben zu können. Bis vor kurzem (ich bin heute 44 / verh. / 1 Kind) war das immer sehr kontrollierbar und gab sich nach einigen Tagen oder Wochen.
Im Juli aber habe ich eine Tablette genommen (zu diesem Zeitpunkt hatte ich viel Stress [mit der Arbeit war ich unzufrieden und kompensierte das durch viel Sport] und das Gefühl gehabt, sie nicht vollständig schlucken zu können. Da ich dieses Gefühl nicht kannte, verleitete es mich zum Googlen. Aus Schluckbeschwerden und Dysphagie, wurde schnell ALS. Ich dachte mir aber nichts dabei. Mein Unterbewusstsein schien es sich aber irgendwie gemerkt zu haben.
Eine Woche später erhole ich mich nach einer Trainingseinheit und merkte wie meine Waden zucken. Die Füße kamen dann auch noch dazu. Das Zucken war beidseits wie ein kleines pochen und manchmal wie ein kräuseln.
Ich zeigte es meiner Frau. Fand sie irgendwie merkwürdig, meinte aber das sie es auch manchmal habe. Ich kannte es bisher vom Bizeps und vom Auge - klar. Aber das war mir neu. Es hielt den ganzen Tag. Ich googlete wieder - diesmal Muskelzucken - ALS stand ganz weit oben. Dann stieg die Angst in mir auf. Fortan verschlimmerten sich meine Symptome. Die Waden zuckten extrem. In der Nacht ploppte es die Beine hoch und runter. Ich bin dann am nächsten Tag zum Hausarzt. Sie schaute es sich nicht an, meinte Magnesiummangel, nahm ein Labor ab, fertig.
Das Zucken war teilweise den ganzen Tag und bereitete mir immer mehr Sorgen. Parallel fing ich nun an zu lesen. Erfahrungsberichte ALS, Berichte auf psychic.de oder dgm. Das Zucken wurde nicht besser, die Schluckbeschwerden immer schlimmer. Mittlerweile traute ich mich kaum noch Nüsse zu essen, weil immer irgendwas im Rachen hängenblieb. Das Labor war ok - das verunsicherte mich noch mehr. Ich suchte einen HNO Arzt und Neurologen auf. Der HNO meinte, nichts erkennen zu können - außer Schleim im Hals (vermutlich stiller Reflux). Eine Neurologin machte die üblichen Funktionstests und auf meinen Wunsch ein EMG an den oberen und unteren Extremitäten. Mein Sportpensum erhöhte sich ums vielfache, weil ich testen wollte, ob noch alle Kräfte so sind, wie sie sein sollen. Ohne es zu merken, war ich binnen 4 Wochen in einer Angstspirale gefangen, aus der ich mich nicht mehr herauswinden konnte. Zur Beruhigung nahm ich 8 Neurexan am Tag. Teilweise hatte ich morgens schon so müde Beine, das ich nicht mehr einordnen konnte, ob es vom Sport kam, oder Schwäche ist. Muskelkater hielt mitunter drei Tage. Ich las noch mehr Erfahrungsberichte von ALS Patienten und blieb immer wieder am Muskelzucken kleben. Meine Stimmung war nur noch depressiv und mein ganzer Tag bestand aus der Angst, bald schwer zu erkranken. Innerlich nahm ich täglich Abschied von meiner Tochter, was mir jedes Mal mein Herz in Stücke riss. Ich bekam Kopfschmerzen, Nackenschmerzen, Schulterschmerzen. Meine Beine schmerzten und mir war schwindlig. Das Schlucken wurde immer schlimmer. Meine Frau brachte eines Tages einen Döner mit - er lag vor mir auf dem Teller und ich hatte keine Ahnung wie ich den vertilgen sollte. Es war schrecklich.
Eines Nachts waren die Kopfschmerzen so schlimm, das ich in die Rettungsstelle fuhr. Dort wurde mir gesagt, das es vermutlich vom Nacken kommt - CT Kopf wurde gefahren - Labor gemacht - alles blande. Bis jetzt waren 6 Wochen zwischen der steckengebliebenen Tablette und dem CT vergangen. Ich suchte meine Orthopädin des Vertrauens auf. Sie quaddelte mich ein paarmal und verschrieb mir Physio. Das Zucken hielt an und machte mir Angst. Die Kopf-, Schulter- und Nackenschmerzen wurden mit jeder Sitzung Lidocainspritzen weniger. Sport ging mit entsprechender Motivation, da ich mich auf Leistung testen musste. Nach 8 Wochen stellte ich fest, das mein rechtes Bein muskulöser als mein linkes Bein ist. Ich nahm mir ein Maßband und objektivierte es für mich. Seitdem entwickelte es sich regelrecht zum Zwang, jeden Tag meinen Körper auszumessen, nur um festzustellen, das die rechte Seite insgesamt mehr ist, als die linke Seite. War das etwa die Atrophie? Auf einmal hatte ich auch das Gefühl, das mein linkes Bein hinterher schleift. Ich den Fuß nicht richtig heben kann. Panik. Ich machte Videos von meinem Gang, erhöhte mein Runningpensum, machte intensives Beintraining. Sobald ich einen Muskelkrampf bekam (in der Wade oder im Fuß) stieg meine Herzfrequenz gefühlt auf 180. Ich hatte so eine Angst, das jetzt die Symptome so richtig losgehen. Bei jeder Gelegenheit ging ich auf die Zehenspitzen und suchte nach Koordinationsproblemen. Erneut suchte ich eine Neurologin auf. Sie konnte die Zuckungen auch mit Klopfen auslösen. Nach einer 1-Stündigen Untersuchung empfahl sie mir ins Krankenhaus zu näheren Abklärung zu gehen. Die Angst stieg. Sie versuchte mich zu beruhigen und meinte, das es mit großer Wahrscheinlichkeit nichts Schlimmes ist - dennoch riet sie mir zu genaueren Untersuchungen. Die steckengebliebene Tablette war inzwischen 12 Wochen her, als ich mich für 4 Tage in die Neurologie einer Klinik einweisen ließ. Bis dahin war ich komplett demoralisiert. Sport (6x/Woche) ging nur, weil ich musste - aber der Körper war durch. Die letzten 8 Wochen bestanden aus 2 Laufeinheiten/Woche a 10-12km und 4-5 Kraftsport bis ans Limit. Meine Frau konnte auch nicht mehr. Natürlich machte ich viele Dinge versteckt und für mich aus - aber ich zog sie auch mit in die Sache. Ständig fragte ich sie nach Auffälligkeiten etc. Leider bekam es auch meine Tochter (8 Jahre alt) mit - und fing auch schon an sich ihre Beine genauer anzuschauen und Unzulänglichkeiten zu entdecken. Das machte mir unendlich große Schuldgefühle. Ich hätte nur noch heulen können.
In der Klinik wurde ich auf den Kopf gestellt. Muskelultraschall, EMG, ENG, MIP, MRT, CT, Lumbalpunktion, diverse Labore und neurologische Funktionstests. Die Zuckungen wurden nicht besser. In den 4 Wochen vor dem Krankenhausaufenthalt verteilten sich die Zuckungen auch immer wieder auf andere Regionen des Körpers. Bizeps, Trizeps, Rücken. Teilweise wie ein leise Klopfen - und manchmal so, das man es durch den Pullover sehen konnte.
Der Aufenthalt in der Klinik ergab Benigne Faszikulationen und zwei hochgradige Stenosen im HWK Bereich, sowie Arthrose im HWK Bereich. Defekte an Motoneuron 1 und 2 wurden ausgeschlossen.
Mir wurde in den letzten Wochen oft gesagt, wie unwahrscheinlich es ist, das ich diese Erkrankung habe, weil sie so selten ist. Aber das war für mich natürlich kein Argument. Viele Symptome die ich hatte, deckten sich mit Erfahrungen hier im Forum, aber auch irgendwie mit Erfahrungsberichten von betroffenen ALS Patienten.
Die letzten drei Monate haben mich und meiner Familie viel Kraft gekostet. Teilweise kommt es mir so vor, als wenn wir jetzt erst wieder zusammenwachsen müssen, weil ich so in meinen Wahn vertieft gewesen bin, das ich nur mich gesehen habe. Ich gar nicht mehr am Familienleben teilnehmen konnte, weil ich mich derart in meiner Angst verloren habe. Irgendwie lief die Arbeit und die Familie, liefen die Freunde und das normale Leben, komplett an mir vorbei. Ich denke, das hat auch einiges kaputt gemacht.
Ich möchte denjenigen die eventuell eine ähnliche Symptomatik wie ich haben, gerne einladen, mir Fragen zu stellen. Rate aber auch dazu, natürlich den Hausarzt aufzusuchen um die Symptomatik abklären zu lassen. In den letzten Monaten habe ich umso mehr gemerkt, das die Psyche und vor allem die Angst, Dinge mit dem Körper machen können, die ich nie für möglich gehalten habe! Eine Freundin hat mir vor kurzem gesagt, das die Psyche immer gefüttert werden will. Sobald ein Problem gelöst scheint, sucht sie sich ein Neues. Ich habe in der Zeit den Fehler gemacht und ihr immer wieder Futter hingeschmissen, so dass es am Ende ein riesiges Vieh geworden ist, was ich nicht mehr kontrollieren konnte. Erst die Objektivierung durch diverse Tests und der Versuch den Fachleuten auch zu vertrauen, lässt meine Sorgen nach und nach sinken und mich hoffentlich bald wieder der Alte sein.
Ich wünsche Euch alles Gute!
09.10.2022 13:26 • • 29.04.2023 x 8 #1