Hallo Dubist!
Vielleicht ist meine Antwort ein wenig spät, aber ich habe mich gerade eben extra hier angemeldet, weil mich manche Kommentare hier ziemlich wütend gemacht haben und ich dir gerne meine Erfahrungen berichten möchte.
Bei mir hat dieser Tick angefangen, als ich 11 oder 12 Jahre alt war. Zuerst störte mich das Schmatzen meines Vaters. Vorher war es mir noch nie aufgefallen, dass er irgendwelche Geräusche beim Essen gemacht hat und dann auf einmal habe ich angefangen zu weinen, weil ich so wütend war. Ich habe ihn gebeten damit aufzuhören, ich habe mir die Ohren zugehalten, versucht Geräusche zu machen, die das Schmatzen übertönen, aber vor Allem habe ich mich wahnsinnig schuldig gefühlt. Ich habe meinen Vater doch wahnsinnig lieb und er hat mir nie etwas getan und für mich war/ist er der beste Papa, den ich mir vorstellen kann, also warum werde ich wütend und aggressiv, wenn er doch etwas ganz Normales tut?
Nach kurzer Zeit fielen mir dann auch die Essgeräusche bei meiner Mutter auf (meine Mutter schmatzt nicht, aber jeder Mensch macht nun mal Geräusche beim Essen, egal wie leise sie sind) und es wurde immer unerträglicher für mich. Als ich dann ein wenig älter war, habe ich angefangen in meinem Zimmer alleine zu essen, weil es ich es einfach nicht mehr aushielt mit meinen Eltern am Tisch zu sitzen ohne in Weinkrämpfe auszubrechen, so wütend haben mich diese Geräusche gemacht.
Schlimmer wurde es dann noch, als ich irgendwann neben meinem Vater im Auto saß und ihn atmen hörte. Er schnauft nicht
wahnsinnig, aber er atmet so, dass man es mitbekommt. Auch das war mir vorher nie aufgefallen und auf einmal wollte ich aus dem fahrenden Auto springen, nur um das nicht mehr hören zu müssen. Meine Schuldgefühle wurden immer größer und größer. Wie krank ist es bitte, Hassgefühle gegenüber Menschen (die man normalerweise über alles liebt) zu entwickeln nur weil sie ATMEN?
Anstatt mit meinen Eltern darüber zu reden (wie soll ich anderen erklären, dass ich mich manchmal lieber umbringen würde, als diese bestimmten Geräusche zu hören) zog ich mich immer weiter zurück und verbrachte meine Zeit zuhause nur noch in meinem Zimmer und fühlte mich schlecht, weil ich keine Zeit mehr mit geliebten Menschen verbringen konnte, nur weil ich ein krasses Problem mit völlig natürlichen und alltäglichen Geräuschen hatte.
Irgendwann kamen dann neben den Geräuschen auch visuelle Dinge dazu, die mich an mein Äußerstes trieben. Diesmal jedoch nicht bei meinen Eltern, sondern bei meinen Mitschülern. Rumspielen mit den Haaren, Lippen beißen oder mit den Füßen wippen waren Sachen, die mich so sehr vom Unterricht ablenkten und auch wieder wütend machten (die Gefühle waren sowohl bei den Geräuschen, als auch bei diesen Dingen immer gleich: Wut, Aggression, Hilflosigkeit), dass meine Leistungen rapide bergab gingen. Ich habe z.B. Arbeiten viel zu früh abgegeben, weil ich es nicht mehr aushielt.
Um die viel zu lang gewordene Geschichte kurz zu machen, will ich nun zum Punkt kommen. Diese für andere Menschen kaum oder nicht wahrnehmbaren Geräusche haben mich in meinem sozialen Leben eingeschränkt. Und ich konnte nichts, wirklich NICHTS dagegen tun. Ich habe oft versucht das einfach zu ignorieren. Das ging aber nicht. Irgendwann habe ich es geschafft diese Geräusche zu ertragen und meine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Jedoch schaffe ich es jetzt, nach zehn Jahren, immer noch nicht ganz normal mit meinen Eltern an einem Tisch zu sitzen, ohne sie (so höflich wie möglich) zu bitten, nicht so laut zu essen. Ich fühle immer noch Wut und ich fühle mich manchmal sogar provoziert, aber ich kann es ein wenig unter Kontrolle halten. Immer noch fühle ich mich schuldig und frage mich, was bloß mit mir nicht in Ordnung ist.
Und dann höre ich von Misophonie. Und ich sehe, dass ich nicht alleine bin und dass ich nichts dafür kann (es ist wohl eine neurologische Störung). Zu wissen, dass dies eine anerkannte Krankheit ist und einen Namen dafür zu haben, macht mich glücklich, auch wenn sie nicht heilbar ist. Aber zum ersten Mal nach zehn Jahren kann ich mit meinen Eltern an einem Tisch sitzen und mich nicht schuldig fühlen, weil ich weiß, dass ich nichts dafür kann. Und wenn ich dann teilweise die Antworten hier höre, werde ich wirklich sauer. Das ist eine Krankheit aus allem eine Krankheit zu machen. Oder der Vergleich mit Chips in einem Kino. Das haben wahrscheinlich 99% der Menschen, dass sie sich da gestört fühlen, weil man die Hälfte des Filmes nichts mehr mitbekommt. Aber diese Sachen schränken dich nicht so sehr ein, dass es kaum noch möglich ist ein Leben außerhalb deines Zimmers zu führen und sie bringen dich auch nicht dazu so stark an deinem Verhalten und deiner Person zu zweifeln, dass du depressive Züge aufweist.
Also falls du, Dubist, ähnliche Gefühle bei diesen Geräuschen hast (sie müssen nicht unbedingt so stark ausgeprägt sein), dann lass dich schnellstmöglich von einem HNO-Arzt untersuchen. Wie gesagt, es gibt zwar keine Heilung, aber es gibt Therapien.
Ich wünsche dir alles alles Gute und hoffe, dass manche Menschen aufhören so ignorant zu sein und anfangen solche Dinge ernst nehmen.
Liebste Grüße!
P.S.: Sorry, dass es so lang geworden ist. Ich habe versucht meine Situation so klar wie möglich zu beschreiben. Übrigens kann es auch sein, dass du körperliche Symptome aufweist, wie z.B. Herzrasen, wenn du diese Geräusche hörst.
25.11.2013 18:48 •
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