Mein Onkel war der größte Hypochonder aller Zeiten. Er ist nachts mehrmals ins Badezimmer geschlichen und hat sich den Blutdruck gemessen, aus purer Angst vor dem plötzlichen Herztod. Er hatte - kein Witz - alle 2-3 Monate den Notruf kommen lassen, weil sein Puls oder Blutdruck zu hoch war oder weil er zu ersticken drohte. Hausärzte hatte er gleich drei, je nach Symptom zugeordnet. Halbjährlich MRT, Darm- oder Magenspiegelung, alle 6 Wochen neue Blutwerte, Angst vor Krebs, Hirnschlag, Erstickung, Wahnsinn, Kinderlähmung, Ebola, sogar vor Pest und Cholera, volles aber wirklich volles Programm. Wochenlange Krankschreibungen, mehrere Testamente, Anrufe in der Nacht, um sich von der Familie zu verabschieden, weil er ja den Sonnenaufgang nicht mehr erleben wird. Er war quasi ein lebendiger Toter.
Bis er eines Tages in den Spiegel geschaut und seine Augenringe zum letzten Mal gezählt hat. Er hat - nach eigener Erzählung - plötzlich erkannt und eingesehen, dass sein Leben seit 20 Jahren ein Jammertal ist. Er hat erkannt, dass er sich - und seine Lieben - mit seiner eigenen Angst und irrationaler, gar perverser Phantasie zu Grunde richtet. So hat er nackig vor dem Spiegel geschworen, dass er NIE WIEDER eingebildet krank sein wird. Er hat sich geschworen, dass er - so tödlich krank er je tatsächlich werden mag - NIE WIEDER auch nur eine Minute darüber nachdenken wolle. Er hat sich geschworen, dass er nur noch zum Arzt geht, wenn er zu den Routineuntersuchungen einbestellt oder aber liegend und unfreiwillig hingetragen wird. Und auf einmal begann er zu LEBEN. Sport, Freunde, Feiern und seine Gitarre hatten plötzlich wieder einen Wert für ihn. Seine Familie und seine Lebensfreude rückten wieder in den Vordergrund. Er ist mit 65 Jahren wieder aufgeblüht, ist aufs Land gezogen, hat sich einen Hund gekauft, spielt in einer Band und liebt sein Leben. Und wenn er wieder dumme Gedanken an Krankheiten bekommt, so sagt er sich: mist, wir sterben irgendwann alle aber nur einmal. Ich bin in den letzten Jahren aufgrund meiner Ängste tausende Tode gestorben keine Lust mehr darauf. Wenn ich sterbe, dann richtig. Und nicht vor Angst.
Also gibt es durchaus Menschen, die die Abwärtsspirale aus eigener Kraft überwinden.
06.02.2020 21:26 •
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