Erschöpfung, Burnout und Depression beschreiben unterschiedliche Befind-
lichkeiten. Man kann sie als Punkte auf einem Kontinuum verstehen, als mög-
liche Streckenabschnitte auf einem Weg, der mit einer Anforderung beginnt.
Haben wir eine Anforderung bewältigt, spüren wir Erschöpfung, das ist nor-
mal. Es gibt aber auch Anforderungen, die wir nicht bewältigen und die uns
überfordern. Wenn wir dann durch mehr Einsatz versuchen, die Aufgabe doch
irgendwie zu lösen, beginnt die Situation unsere Ressourcen auf nachhaltige
Weise aufzubrauchen. Der Weg von einer Überforderung bis hin zu einer Er-
schöpfungsdepression führt über lange Zeit zu einer immer tiefer greifenden
Verausgabung und dem Bemühen, die Lücken mit immer mehr Kraftaufwand
zu schließen. Dies ist die Strecke, die sich als Burnout beschreiben lässt. Ge-
schieht auch hier keine Entlastung, sondern schreitet der Prozess der Überfor-
derung weiter voran, folgt irgendwann ein Punkt, an dem nichts mehr geht. Es
ist ein Zustand vitaler und andauernder Erschöpfung erreicht, der die Diag-
nose »Depression« verlangt.
Was wir mit »Erschöpfung« manchmal, mit »Burnout« und« Depression«
dagegen immer beschreiben, ist ein Zustand des Leidens, das Körper und See-
le betrifft. Wir erleben Schwere im Körper oder quälende Unruhe, Konzentra-
tionsprobleme, Schwindel, Herzrasen, Schmerzen, Schlafstörungen, Druck
auf dem Magen, oder im Brustkorb, es fehlt uns Freude, und wir sind reizbar
oder voller Angst. Kurz vor einer Prüfung oder dem Abschluss eines aufwän-
digen Projektes, nach einigen Tagen mit wenig Schlaf, empfinden wir solche
Erschöpfungszeichen als angemessen. Weicht dieses Befinden allerdings ab
von dem Zustand, der uns für unsere derzeitigen Lebensereignisse als »nor-
mal« erscheint, werten wir die Erschöpfungszeichen als Symptome einer Kri-
se oder Krankheit.
Einen Zustand, den wir als krisenhaft oder krank erleben, bewerten wir
häufig als Unterbrechung in der Kontinuität unseres Lebens. Eine Krise
scheint uns aufzuhalten und Zeit zu kosten. Den Zustand von Gesundheit,
Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit halten wir für Normalität. Hingegen
kommt uns ein Tief in unserem Leben falsch vor. Selten erleben wir Erschöp-
fungszeichen als schmerzliche Aufforderung, uns mit unseren Bewältigungs-
strategien auseinanderzusetzen. Stattdessen wünschen wir uns einen Fach-
13 mann, einen Arzt oder einen Therapeuten, der Maßnahmen ergreift, die uns in
den normalen Zustand zurückversetzen.
Wir haben ein Verständnis von uns selbst, in dem Leiden als Störung oder
als Defekt erscheint. Eine Krise werten wir als Anzeichen dafür, dass wir repa-
raturbedürftig sind. Oder dass die Situation, in der wir uns bewegen, falsch ist.
Es ist ein mechanisches Bild.
Aber wir sind keine Maschinen. Was in dem Bild fehlt, ist die uralte Erfah-
rung, dass Menschen durch Krisen hindurchgehen und an ihnen wachsen.
Mythen, Märchen, Bilder oder Literatur überall auf der Welt erzählen von die-
ser Erfahrung.
15.06.2020 11:20 • x 2 #40341