Hallo July,
so, jetzt komme ich endlich dazu, Dir zu antworten.
Die Kombination aus schwerer Angsterkrankung und MS empfinde ich tatsächlich als richtig fies, und bei mir war/ist es so, dass ich wirklich aufpassen muss, dass sich die beiden Erkrankungen nicht gegenseitig hochschrauben und sich gegenseitig verschlimmern. Als Angstpatient kann es für mich gefühlt eigentlich kaum eine schwierigere Diagnose geben, da sie einen in einen Zustand permanenter Ungewissheit mit dem Körper versetzt und man einfach nie weiß, was kommt. Ich habe Probleme damit, dass man alles oder nichts machen kann (Medikamente, Ernährung,...) und der Verlauf der MS trotzdem nicht absehbar ist und stets unberechenbar bleibt (bis auf einige Ausnahmen, auf die ich später eingehe). Der Vergleich mit anderen Patienten bringt einem ja leider gar nichts, man kann keine Rückschlüsse auf seinen eigenen Verlauf ziehen, bei jedem verläuft die Krankheit anders. Ich hatte vorher schon sehr stark psychisch mit einer Angst vor der Unberechenbarkeit des Lebens zu kämpfen, durch die MS kam dann der körperliche Aspekt obendrauf.
Als ich die Diagnose bekam, ging alles so schnell und hat mich so überrumpelt, dass ich gar keine klare Entscheidung bezüglich der Punktion treffen konnte. Ich bin mit Verdacht auf Hörsturz zum Arzt gegangen, der hat das MRT eigentlich nur zur Sicherheit machen lassen. Aber als das Bild dann da war, wurden plötzlich alle sehr hektisch und kaum ein paar Stunden später lag ich im Krankenhaus auf der Neurologie, hing am Cortison-Tropf und die Punktion wurde gemacht.
Meine Einstellung zur Punktion ist inzwischen ambivalent, ich hätte sie immer zur Absicherung der Diagnose haben wollen und halte sie auch nach wie vor für wichtig, aber nach der Erfahrung damit kann ich jeden verstehen, der das nicht machen lassen möchte (bei mir ist sie aber auch sehr ungünstig verlaufen, ich hatte wohl einfach Pech).
Für mich ist es gut, diese Diagnose-Absicherung zu haben. Für mich war sie zusätzlich wichtig, da ich inzwischen berufsunfähig bin und der Amtsarzt wissen wollte, wie die Diagnose gestellt wurde.
Und ja, ich hatte einige schwerere Schübe, darum habe ich mich für die Basismedikation entschieden. Bei Cortison bin ich vorsichtig, nach 5 Tagen am Cortison-Tropf ging es mir so schlecht, dass ich diese Option nur noch in ganz schweren Schüben in Betracht ziehe, ansonsten meide ich dieses Zeug, so gut es geht, und halte weniger schwere Schübe lieber so aus.
Nach einer Phase ziemlicher Verzweiflung habe ich mir dann überlegt, was ich konkret machen kann. Und da bin ich ganz bei @ Calima, ich sehe viele Dinge genauso oder ähnlich wie sie.
Ich habe mich genau für den Weg entschieden, den sie auch vorschlägt, nämlich meine psychischen Baustellen bestmöglich anzugehen, da kann ich pro-aktiv etwas tun. Bei der MS kann ich nicht viel machen. Zuerst habe ich mir ganz viel Stress mit der Ernährung gemacht, das lasse ich inzwischen (es empfiehlt eh jeder etwas anderes), da es zu stressig wurde. Ich nehme eine Basismedikation, da es meine Chancen erhöht, den Verlauf positiv zu beeinflussen. Ich möchte mir später diesbezüglich nicht vorwerfen müssen, nicht alles menschenmögliche getan zu haben. Aber auch hier verstehe ich jeden, der sich gegen eine Basismedikation entscheidet, da der Nutzen dieser Medikamente ja durchaus begrenzt ist und die Nebenwirkungen dafür oft erheblich sind.
Aber Stressvermeidung ist ja tatsächlich ein Faktor, mit dem man die MS positiv beeinflussen kann. Daher gehe ich meine Ängste, Depressionen, komplexen Traumafolgestörungen und Persönlichkeitsstörungen intensiv mit Therapie an. Ich mache seit Jahren ambulant Therapie, zuerst tiefen-, jetzt verhaltenspsychologisch. Ich gehe ambulant zur Therapie, mache immer wieder intensive stationäre Aufenthalte (zumeist über 12 Wochen), in schlechten Phasen ergänze ich die ambulante Therapie durch ambulante psychiatrische Pflege, durch Gruppentherapie in der ortsansässigen psychiatrischen Institutsambulanz oder durch psychiatrische Ergotherapie...also alles, was so möglich ist.
Leider verbessert sich mein Störungsbild aufgrund der Komplexität der Störung nur sehr langsam, daher der lange Therapiezeitraum, aber ich merke, dass sich da jetzt wirklich etwas tut in mir drinnen. Ich komme mit meinen Ängsten, dissoziativen Problemen (durch eine DIS) und Emotionsregulationsproblemen inzwischen besser zurecht, wodurch sich das krankhaft Anspannungsniveau langsam bessert, was der MS zugute kommt.
Mit den Depressionen ist das so eine Sache, die werden nicht wirklich besser, aber das kann zum Teil auch durch die MS bedingt sein und eine körperliche Ursache haben, die eine Verbesserung behindert. Medikamente nehme ich, die helfen aber nur bedingt. Trauma-Arbeit geht nur in sehr dosierten kleinen Schritten und wird oft durch die Dissoziationen blockiert, aber auch da gebe ich nicht auf und versuche es immer wieder (mit EMDR oder IRRT).
Mein Neurologe ist bislang zufrieden mit den Auswirkungen der Therapie auf meine MS, die letzten MRTs sahen schon besser aus. Leider liegt es ja im Wesen der MS, dass das nicht so bleiben muss und diese sich trotz allem wieder verschlechtern kann, aber für mich fühlt sich der Weg, für den ich mich entschieden habe, bislang richtig an.
Große Angst habe ich davor, dass die MS sich schneller verschlechtert als die psychischen Probleme sich lösen/verbessern lassen. Die Klinik, in die ich gehe, nimmt mich noch auf, auch wenn meine psychische Diagnoselage grenzwertig für eine psychosomatische Klinik ist (es sind Diagnosen dabei, die die meisten psychosomatischen Kliniken nicht aufnehmen). Mit der MS dazu ist es dann immer etwas heikel (gerade auch, weil ich mein Medikament selbstständig auf meinem Zimmer spr**), und noch brauche ich diese Phasen der intensiven therapeutischen Arbeit in einem gesicherten Umfeld in regelmäßigen Abständen. Aber dafür darf mein Funktionsniveau nicht weiter absinken, und meine Hoffnung ist ja auch, irgendwann mit der Therapie fertig zu sein bzw. diese nicht mehr (oder nicht mehr so intensiv) zu benötigen.
Inzwischen kriege ich mich in Krisen schon deutlich schneller reguliert, kann meine Ängste besser abschwächend mich besser im Hier und Jetzt halten.
Ich frage mich bei Missempfindungen oftmals schon gar nicht mehr, ob das jetzt ein Derealisations-/Depersonalisationsempfinden oder ein MS-Symptom ist, ich reguliere einfach bestmöglich, bemühe mich um Ruhe und kann inzwischen auch schon besser einschätzen, wann der Körper tatsächlich Ruhe braucht und wann es die Psyche ist, lerne auch immer mehr, wie man mit dem Körper die Psyche und mit der Psyche den Körper beeinflussen kann.
Ich hoffe, ich konnte Dir mit meinem Erfahrungsbericht etwas weiterhelfen und Dir Deine Fragen beantworten.
Ich drücke Dir alle Daumen für Deinen Neurologen-Termin und wünsche Dir nur das Beste!
LG Silver
09.04.2021 04:32 •
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