Lieber Gennevilliers,
ich habe mir heute deinen Thread in einem durchgelesen.
Reconquista hat ja auch schon echt gute Dinge zu deinem Problem geschrieben.
Dein Leidensdruck scheint hoch zu sein. Es tut mir leid, dass es dir immer wieder so schlecht geht (mit guten Momenten zwischendrin).
Das, was du beschreibst meine ich auch so ähnlich zu kennen. Man spürt so einen Kontrollverlust über die eigenen Gedanken. Für mich hat sich das damals mit ca. 30 Jahren so angefühlt als gäbe es da einen Automatismus, den ich nicht beeinflussen kann. Unkontrollierbarer negativer Gedanke führt zu Angstgefühl, begleitet von diversen körperlichen Symptomen. Ich habe mich dem damals ausgeliefert gefühlt.
Mein „normales“ Leben aufrecht zu erhalten kostete unglaublich viel Energie.
Die Angst-Dauerschleife war auch in guten Momenten nicht weg. Sie lief nur ab und zu von mir relativ unbemerkt im Hintergrund.
Wie Reconquista es gut beschrieben hat…das Modul „Angst“ ist bei allen von uns „Angsterkrankten“ angelegt und mal mehr oder weniger aktiv, je nach Stresslevel.
Ich glaube allerdings, es gibt einen Leidensdruck, der sich durch das nicht-Füttern von angstmachenden Gedanken oder Ablenken oder Akzeptanz nicht reduzieren lässt.
Der Grund ist einfach chemischer Natur. Eine länger andauernden Angstphase verändert biochemische Prozesse in unserem Körper. Wie die sich so verändern, ist hochkomplex und versteht m.E. in seiner Komplexität keiner so richtig (auch die Hirnforscher nicht). Da spielen Hormone, allerlei Botenstoffe, individuelle Veranlagung usw. mit rein.
Ich habe allerdings am eigenen Leib erfahren, dass ein Antidepressivum sehr helfen kann, diese biochemischen Prozesse wieder in Balance zu bringen. Bei mir hat es den Zugang zu meinen destruktiven Gedankenschleifen auf ein erträgliches Minimum reduziert.
Ich hatte wahrscheinlich auch Glück. Das erste AD (Sertralin), das ich nahm, zeigte nach einigen Wochen seine Wirkung und dieses unerträgliche, übermächtige Angstgefühl (Zwänge waren auch dabei) war wieder kontrollier und händelbar geworden.
Ich nehme nun Sertralin seit über 20 Jahren, immer in der gleichen kleinen Dosis von 50mg. Zwei Absetzversuche habe ich auch gehabt, weil ich dachte, es geht ohne. Beide Male klopfte nach jeweils 6 Monaten meine Angsterkrankung wieder an die Tür.
Ich habe für mich beschlossen, dass ich aus biochemischen Gründen die ADs bis an mein Lebensende nehme. Ich interessiere mich nicht für die Langzeit-Nebenwirkungen (und google sie nicht), denn das Sertralin hat mir bisher über 20 gute Jahre (mit händelbaren Höhen und Tiefen) geschenkt. Tatsächlich bin ich jeden Tag dankbar, dass es für mich ein wirksames AD gibt. Wenn irgendwelche Langzeit-Nebenwirkungen mein Leben evtl. verkürzen werden, dann soll es so sein.
Du hast doch auch schon ein AD genommen, Genevililliers, warum nicht nochmal?
Keiner nimmt diese Tabletten leichtfertig ein. Wer ist schon gerne von so einer Pille abhängig…und jetzt komme ich wieder mit dem immer gleichen Argument - wenn du Schilddrüsen-Medikamente brauchst, nimmst du sie dann aus Angst vor Abhängigkeit irgendwann nicht mehr. Oder Diabetes, oder Bluthochdruck….?
Alle Tabletten können Nebenwirkungen irgendwelcher Art hervorrufen. Da heißt es abwägen…für mich gab und gibt es da keine Alternative.
Ich will allerdings auch nicht verschweigen, dass ich nicht nur das AD nehme und alles ist gut.
Ich praktiziere Achtsamkeit seit vielen Jahren auf der Grundlage eines besuchten MBSR-Kurses, achte auf meine Schlafhygiene und einigermaßen gesundes Essen, trinke nur ab und zu Alk. und pflege meinen Freundeskreis.
Dankbarkeit spielt außerdem eine große Rolle in meinem Leben. Jeder Tag, jede Stunde, in der es mir gutgeht, ist für mich nicht selbstverständlich. Das Leben kann sich jeden Moment ändern in die unterschiedlichsten Richtungen. Das ist der normale Grundrhythmus des Lebens. Viele Dinge entziehen sich tatsächlich unserer Kontrolle (z.B. Erkrankung nahestehender Menschen oder von uns selbst, Wetterkatastrophen, Unfälle, Jobverlust…). Das gilt es zu akzeptieren. Das Leben ist fragil.
Wir sollten aber immer weiterversuchen uns dem Leben zu stellen. Rausgehen, unter Leute gehen, irgendetwas machen….nicht so viel denken!
Wenn man nämlich rausgeht in die Welt oder auch nur in den Garten, kann es sein, dass man die Nachbarin trifft und ein Gespräch hat, das dem Tag auf einmal eine neue Wendung gibt (kann natürlich die Stimmung entweder heben oder auch senken, aber auf jeden Fall macht es etwas mit einem). Oder man hört einen Vogel zwitschern und erfreut sich daran, oder der Vogel schei. einem auf den Kopf, dann spürt man natürlichen Dung auf dem Kopf und freut sich oder auch nicht ok, ich schweife ab…
Meine schwierigsten Zeiten waren immer die, in denen ich nicht viel zu tun und mich zurückgezogen hatte. Viel Zeit zum Grübeln macht unglücklich.
Wenn du jetzt wegen deinem Rücken krank geschrieben bist, hast du gerade viel Zeit dich in deinen Grübelschleifen zu verlieren. Andersherum kann man sich auch nicht ständig ablenken. Man hat immer irgendwann Ruhephasen.
Wenn man längere Zeit krank geschrieben oder arbeitslos ist, ist es nach einer Zeit der Inaktivität umso schwieriger wieder ins Tun zu kommen. Aber auch nach einer längeren zurückgezogenen Zeit kann das wieder gelingen. Man muss halt klein anfangen und sich jedesmal feiern, wenn man es schafft, aus dem Schneckenhaus rauszukriechen.
Erfolgreich sein bedeutet Weiterzumachen
Vielleicht kannst du mit meinen Betrachtungen etwas anfangen, lieber Gennevilliers.
Ich grüße dich,
Haferflocke
11.03.2024 18:40 •
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