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Wenn einer wegen Kleinigkeiten schlecht drauf ist, ist er eben depri, wenn er wegen Depressionen bei der Arbeit fehlt, ein Drückeberger. Noch immer haben Depressive in Deutschland ein seltsames Image. Ihr Leiden steht irgendwo zwischen eingebildeter Krankheit und dreister Ausrede für Faulheit. Dabei handelt es sich um eine ganz schlimme Erkrankung, einen grauenhaften Ausnahmezustand, beschreibt Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim, die Depression. Obwohl nach Schätzungen jeder fünfte Deutsche einmal in seinem Leben eine depressive Phase durchmacht, besitzt die Krankheit mit ihren vorwiegend psychischen Symptomen nicht den gleichen Stellenwert wie Krebs oder Herzinfarkt. Neue Erkenntnisse über die molekularen Mechanismen, die zu Depressionen führen, könnten diese Wahrnehmung grundlegend ändern.

Lange vermuteten Wissenschaftler, es herrsche schlicht ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn der Patienten. Denn die verbreitetsten Antidepressiva, die sogenannten Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRIs), erhöhen den Spiegel des Botenstoffs Serotonin im Gehirn - also scheint damit etwas nicht in Ordnung zu sein. Doch ganz überzeugte diese These nie. Nicht jeder wird beispielsweise depressiv, wenn man seinen Serotoninspiegel versuchsweise senkt. Außerdem lassen sich SSRIs im Gehirn schon innerhalb von Stunden nachweisen; trotzdem dauert es in der Regel drei bis sechs Wochen, bis der Patient eine Besserung seines Zustands verspürt. Wenn dann nichts passiert, wechseln die Ärzte das Medikament. Und drei Wochen später wieder. Manchen Patienten helfen die Pillen gar nicht.

Solche Ungereimtheiten lenkten das Interesse von Ron Duman, Professor für Psychiatrie und Pharmakologie an der Yale-Universität, und anderen Wissenschaftlern auf sichtbare Veränderungen im Gehirn von stark depressiven Patienten: An bestimmten Stellen ist die Dichte der Nervenzellen geringer, und die Zellen selbst sind kleiner als bei gesunden Menschen, sagt Duman. Seine neuesten Erkenntnisse wird er kommende Woche beim Internationalen Neuropsychopharmakologie-Kongress in München vorstellen.

Ganze Areale im Vorderhirn und im Hippocampus, einer wichtigen Schaltstelle im Gehirn insbesondere für die Gedächtnisbildung, schrumpfen und verkümmern bei Depressiven. Der Hippocampus, das hat Philippe Fossati vom Salpêtrière-Krankenhaus in Paris beobachtet, sogar um bis zu zwanzig Prozent. Was genau bei diesem Verfall passiert, lässt sich bei Menschen nicht untersuchen. Doch Experimente mit Nagetieren zeigen, dass sich dabei die Plastizität, also die Fähigkeit der Nervenzellen, verschiedene Aufgaben zu übernehmen, verändert. Sie bauen weniger neue Kontakte untereinander auf. Und im Hippocampus bilden sich weniger neue Nervenzellen, erklärt Yale-Forscher Ron Duman.

Auf welche Weise die verfallenden Hirnareale so verschiedenartige Symptome wie Schwermut, Schlaflosigkeit oder Konzentrationsschwäche verursachen können, ist noch unklar. In den betroffenen Arealen liegen Schaltkreise, die zum Beispiel für Lernen, Gedächtnis oder vegetative Prozesse - wie Schlafen, Sexualtrieb, Essen - zuständig sind. Wenn sich dort Nervenverbindungen ändern oder wegfallen, kommt es zu Störungen, vermutet Duman.

Die Depression ist demnach kein diffuses Seelenleiden, sondern ein Hirnschaden, der für Schwermut sorgt? Diese These ist in der Öffentlichkeit noch kaum verbreitet, findet unter Wissenschaftlern jedoch zunehmend Befürworter. Es gibt immer mehr Experimentaldaten, die sie stützen, sagt Thomas Frodl von der psychiatrischen Klinik der Ludwigs-Maximilians-Universität in München.

Verursacht werden die Schäden im Gehirn offenbar durch einen Mangel an Stoffen, die sonst für Wohlbefinden und aktive Neuronen sorgen. Auch Wachstumsfaktoren wie etwa BDNF (brain derived neurotrophic factor) und VEGF (vascular endothelial growth fac- tor) sichern normalerweise den Fortbestand der Verbindungen zwischen den Nervenzellen. Lang anhaltender chronischer Stress unterdrückt die Ausschüttung dieser Faktoren, erklärt Philippe Fossati.

Das passt durchaus ins neue Bild der Depression - schließlich gehen ihr häufig starke Arbeitsbelastung oder traumatische Ereignisse wie ein Trauerfall oder das Zerbrechen einer Beziehung voraus. Selbst länger zurückliegende Stressphasen wie etwa Misshandlung oder Missbrauch in der Kindheit können zu einer erhöhten Anfälligkeit in späteren Lebensphasen führen, vermutet der französische Wissenschaftler. Und auch dafür gibt es Hinweise in aktuellen Studien, die epigenetische Veränderungen an der Erbsubstanz von Hirnzellen fanden.

Ein Trost bleibt den Betroffenen: Auch nach den neueren Erkenntnissen spricht alles dafür, dass sich das Gehirn wieder erholen kann. Die beobachteten Nervenschäden sind offenbar reversibel. Und indirekt kommen damit ausgerechnet die mehrfach in die Kritik geratenen Serotonin-Wiederaufnahmehemmer wieder ins Spiel. Erst im Frühjahr war eine Übersichtsstudie erschienen, nach der die Medikamente nicht wirksamer seien als Placebo-Präparate. Dass die Veröffentlichung sich vor allem auf Fälle von leichter Depression und einen kurzen Anwendungszeitraum bezog, ging in den Schlagzeilen unter. Aber gerade Patienten mit schweren Depressionen, bei denen morphologische Veränderungen im Gehirn zu beobachten sind, können anscheinend von den SSRIs profitieren: nicht indem sie direkt die Reizübertragung zwischen einzelnen Nervenzellen beeinflussen, sondern indem sie die Neubildung im Hippocampus anstoßen und damit die Plastizität erhöhen. Wie, das bleibt noch zu klären. Vermutlich ist das die Folge einer umfangreichen Signalkaskade, an deren Ende die fehlenden Nahrungs- und Wachstumsfaktoren im Gehirn wieder produziert werden. Bis das passiert und bis dann wiederum neue Verbindungen geknüpft beziehungsweise Nervenzellen gewachsen sind, vergeht Zeit. Womöglich steht Serotonin ganz am Anfang dieser Reaktionskette - das würde erklären, warum SSRIs den Patienten erst nach Wochen helfen.

Der Psychiater Fossati plädiert deshalb dafür, Medikamente auch nach Verschwinden der Depression weiterhin vorbeugend einzunehmen, mindestens für ein bis zwei Jahre, womöglich aber auch ein Leben lang. Allerdings sind SSRIs seiner Ansicht nach nicht der Weisheit letzter Schluss. Wir brauchen unbedingt effizientere Antidepressiva. Sie müssen schneller und bei mehr Patienten wirken und weniger Nebenwirkungen haben. Es kann heute ein Jahr dauern, bis ein Patient das richtige Medikament gefunden hat. Und nur zwei Drittel der Patienten reagieren überhaupt darauf, bestätigt Ron Duman. Der Amerikaner hält Ketamin für einen vielversprechenden Kandidaten.

Diese Substanz ist zwar bislang eher als Partydroge berüchtigt, vor zwei Jahren stellte sich jedoch heraus, dass schon eine einzige Dosis depressiven Patienten hilft, sich bereits innerhalb von vierundzwanzig Stunden besser zu fühlen. Und die Wirkung hält immerhin zwei Tage an. Vermutlich greift Ketamin ebenfalls in den Mechanismus ein, der schließlich zur Auschüttung von Wachstumsfaktoren führt - aber an einer geeigneteren Stelle der Signalkaskade als die SSRIs. Allerdings wirkt Ketamin auch halluzinogen. Deshalb wollen Wissenschaftler eine Substanz finden, die den gleichen Angriffspunkt besitzt, ohne einen Rausch hervorzurufen.

Mit Tabletten allein werden Depressionen wohl auch in Zukunft nicht heilbar sein. Beschädigte Hirnstrukturen auf medikamentösem Weg zu reparieren heißt noch nicht, Denkmuster wiederherzustellen. Doch ergänzende Verhaltenstherapien könnten dann ungleich wirksamer sein.


Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13.07.2008, Nr. 28 / Seite 62

13.07.2008 14:46 • 13.07.2008 #1


1 Antwort ↓

Sehr interessant.
Danke das du den Text hier bereitgestellt hast.
Habe ihn mit grossem Interesse gelesen.
LG Frank





Dr. Hans Morschitzky
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