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Hallo Leute,

seit 3 Wochen leide ich unter extremer Traurigkeit, Heulkrämpfen (und ich bin wirklich nicht nah am Wasser gebaut!), Grübeln, negativen, kreisenden Zwangsgedanken, kompletter Schlaf- und Appetitlosigkeit, Hoffnungslosigkeit und fühle mich, als stünde ich neben mir und wäre unfähig, Freude zu empfinden.

Den aktuellen Auslöser kann ich klar benennen: Mit dem Ausbruch der Pandemie wurde mein (nicht stressiger, relativ langweiliger) Büro-Job ins Home-Office verlegt. Und jetzt wieder zurück.

Vor 7 Jahren habe ich die Stelle direkt nach der Uni angenommen und in den ersten Wochen ähnliche Symptome gehabt, die aber stetig besser wurden und dann ganz verschwanden. Ich kam überhaupt nicht zurecht mit der Umstellung von einem komplett selbstbestimmten, zwanglosen Leben innerhalb meiner Komfortzone zu einem 8:00 Uhr-17:00 Uhr-Job - voraussichtlich bis zur Rente. Klassische Anpassungsstörung also vermutlich.

Verstärkt wurden die Symptome damals auch, weil ich mich in dem Job von Anfang an nicht wohlgefühlt habe. Ich bin eigentlich ein kreativer Typ (begeisterter Musiker und Fotograf), aber auch ein Tüftler und Problemlöser. Studiert habe ich Ingenieurwissenschaften mit der Hoffnung, irgendwann coole Geräte für die Unterhaltungsindustrie zu entwickeln. Eine Karriere als Musiker oder Fotograf schien einfach nicht realistisch und so wollte ich wenigstens Produkte entwickeln, mit denen ich kreative Menschen glücklicher machen kann.

Gelandet bin ich aber in einem Konzern, der Fertigungsanlagen für die Industrie produziert. Richtig öde also. Erträglich wurde die Sache irgendwann, weil ich relativ wenig zu tun und viel Zeit für Privates (Internet etc.) im Büro hatte. Ich schreibe das hier übrigens alles von meinem Schreibtisch auf der Arbeit

Meetings oder außerplanmäßige Treffen waren für mich immer ein Graus, ich wollte einfach nur schnell wieder nach Hause Mögliche Dienstreisen waren der absolute Horror, fanden aber (bis auf eine Ausnahme) nie statt, weil ich immer einen Weg gefunden habe, sie elegant zu umgehen. Der bloße Gedanke daran, tage- oder wochenlang an einem weit entfernten Ort gefangen zu sein, war und ist immer noch unerträglich.

Zurück zur Covid-Zeit: Ich konnte nun also knapp 2 Jahre lang jeden Tag in meinem schönen Haus, umgeben von meiner wunderbaren Familie (Frau und zwei kleine Kinder) arbeiten. Da es ohnehin ein eher ruhiger Job war (siehe oben) und sich die Aufgaben in der Pandemie noch weiter reduzierten, gab es bis auf eine Handvoll Meetings pro Woche und ein paar E-Mails fast nichts zu tun.

Ich hatte also de facto zwei Jahre voll bezahlten Urlaub. Ich konnte die Kinder betreuen, zur Schule bringen, den Haushalt schmeißen und die Zeit gemütlich mit meiner Frau verbringen.

Vor drei Wochen kam per E-Mail die Ankündigung, dass alle Mitarbeiter in zwei Wochen wieder ins Büro zurückkehren müssen für mindestens 4 Tage pro Woche. Die Nachricht war für mich ein Trauma. Sofort begannen die oben genannten Symptome und wurden mit jedem Tag, den die Rückkehr ins Büro näher rückte schlimmer.

Seit einer Woche arbeite ich jetzt wieder vor Ort und es gibt keine wirkliche Besserung. Ich kann nur daran denken, wegzulaufen, zurück in meine Komfortzone, mein Haus, zu meiner Familie. Ich fühle mich, als wäre mir mein Leben, meine Freiheit geraubt worden und ich kann nichts dagegen tun, weil wir als Familie sonst alles verlieren. Solche Gedanken habe ich ca. 15 Stunden pro Tag und kann nicht ausbrechen.

Zuerst schob ich die Symptome auf den ungeliebten Job und begann noch während der letzten zwei Wochen zu Hause Bewerbungen zu schreiben. Allerdings auch wieder auf Stellen, die mich nicht wirklich interessieren, aber die Möglichkeit zur Arbeit von zu Hause zwischen 40% und 100% bieten.

Kurioserweise wurde ich sehr schnell zu Vorstellungsgesprächen eingeladen, die heute nachmittag (!) und in zwei Wochen stattfinden.

Die Symptome hat es aber nicht gelindert, im Gegenteil. Nun fürchte ich mich fast mehr vor den neuen Jobs (die ich ja noch gar nicht habe oder annehmen muss, ich weiß) als vor dem, was ich schon kenne. Was ist wenn ich dort gar keine privaten Dinge mehr erledigen kann? Wenn dort mehr Dienstreisen gefordert werden? Wenn es in der Probezeit gar kein Home-Office gibt?

Ich bin komplett in dieser Spirale von Katastrophen-Szenarien in meinem Kopf gefangen und komme da nicht mehr raus.

In 4 Tagen habe ich einen Termin bei meinem Hausarzt. Außerdem habe ich Erstgespräche bei zwei Psychotherapeuten in 2 und 3 Wochen vereinbart. Ich brauche auf jeden Fall Hilfe.

Bevor ich mit einem Psychologen sprechen kann, fahre ich aber noch eine Woche mit der Familie in den Osterurlaub. Davor sorge ich mich auch ohne Pause, weil ich fürchte, den Urlaub mit meiner Stimmung für die Familie zur Katastrophe zu machen.

Meine Frau ist ein Engel und sehr verständnisvoll. Sie tut wirklich alles, hört zu, redet beruhigend auf mich ein und bringt mich durch die schlimmsten Momente. Aber ich möchte sie auch nicht weiter damit belasten.

Ich weiß gar nicht mehr, was ich eigentlich fragen wollte.

Was ist verkehrt mit mir?

Habe ich wiederkehrende Anpassungsstörungen bei trivialen Dingen? Ergibt für mich keinen Sinn, weil ich andere, objektiv sehr stressige Ereignisse im Leben (Hochzeit, Geburt Kinder, Umzug, etc.) hervorragend weggsteckt habe.

Eine Soziale Angststörung/Phobie? Passt irgendwie auch nicht. Ich habe keine Angst vor Menschen und mich interessiert eigentlich auch nicht, wie diese mich bewerten. Ich kann auch (wenn auch mit ein bisschen Lampenfieber) Auftritte mit der Band genießen und vor Menschengruppen reden. Ich wurde sogar schon mal als charismatisch bezeichnet.

Trennungsangst? Heimweh? Das passt für mich am ehesten. Ich habe eine sehr starke Bindung zu meiner Frau und den Kindern. Ich sorge mich aber eigentlich nicht, dass ihnen was zustoßen könnte, sondern habe eher den Wunsch, immer bei ihnen zu sein und zu wissen, was passiert. Meine Frau ist mal 3 Tage ohne mich in eine andere Stadt gefahren mit wenig Kontakt, da hatte ich ähnliche Symptome wie oben und brauchte auch viele Tage, um wieder normal zu werden.

Wie soll ich weiter machen? Die Psychologin wird vielleicht eine Diagnose stellen, bis dahin würde ich aber gerne nach Gleichgesinnten suchen oder Hilfe finden, um den Urlaub für alle zu einem guten Erlebnis zu machen. Im Moment kann ich aber nur negative Gedanken denken und kriege einfach keine einzige Auszeit. Es ist unerträglich.

Und ich habe heute noch ein Vorstellungsgespräch, absolut unfassbar

11.04.2022 08:13 • 11.04.2022 x 1 #1


2 Antworten ↓


@adj Servus und willkommen!

Dein Fall liest sich interessant .

Zitat von adj:
Ich hatte also de facto zwei Jahre voll bezahlten Urlaub. Ich konnte die Kinder betreuen, zur Schule bringen, den Haushalt schmeißen und die Zeit gemütlich mit meiner Frau verbringen.

Vielleicht kannst Du Dich an den Wiedereinstieg erinnern, als Du früher aus dem Urlaub zurück auf Arbeit musstest? Schon nach drei Wochen süßem Privatierleben dauert es eine ganze Weile, bis man wieder die Schlagzahl des Büroalltags verkraftet. Zumindest ging mir das früher immer so. Zwei Jahre sind eine lange Zeit. Da gewöhnt sich der Geist ziemlich stabil um.

Innerhalb der Temperamentenlehre scheinst Du starke Phlegmatiker-Ausprägungen zu haben: https://www.mensch-und-psyche.de/typenm...ntenlehre/

Ich grundsätzlich übrigens auch, jedoch mit Hang zum Choleriker.

Zitat von adj:
Was ist verkehrt mit mir?

Nichts. Du hast Dich in einem reduzierten Lebensstil, der Deinem Naturell ziemlich vollumfänglich entgegen kam, wohlig eingerichtet und musst nun die Komfortzone verlassen. Das erzeugt verständlicherweise Turbulenzen. Das Kriegsthema (Ukraine) und die damit verbundenen generellen Unsicherheiten tun ihr Übriges.

Zitat von adj:
Habe ich wiederkehrende Anpassungsstörungen bei trivialen Dingen? Ergibt für mich keinen Sinn, weil ich andere, objektiv sehr stressige Ereignisse im Leben (Hochzeit, Geburt Kinder, Umzug, etc.) hervorragend weggesteckt habe.

Allerdings werden wir älter und dabei ggfs. geistig träger, sicherheitsbedürftiger. Meine erste Krise hatte ich ebenfalls mit 35 - ist schon ein kritisches Alter bei uns Buben...

Zitat von adj:
Ich fühle mich, als wäre mir mein Leben, meine Freiheit geraubt worden und ich kann nichts dagegen tun, weil wir als Familie sonst alles verlieren.

Dieses Problem wird mit hoher Wahrscheinlichkeit kein anderer Job lösen, denn der Job an sich war vorher ja auch nicht der Knackpunkt.

Ich würde mich eher eben anlässlich dieser Krise grundsätzlich mal mit der Frage beschäftigen, ob denn die (vermeintliche) Komfortzone wirklich so beglückend war. Das glaube ich nämlich nicht! Sie hat nur eine gluckenhafte Brutnähe provoziert, die Dir einfach sehr gut gefallen hat. Nun zu erleben, dass Du in dieser idealen Lebensweise quasi verweichlicht wurdest, lässt Dich an Deiner Überlebensfähigkeit und Versorgerrolle zweifeln. Dass das Angst erzeugt, ist nur verständlich.

Ich persönlich würde mich nun mit dem genauen Gegenteil beschäftigen: der Unsicherheit des Daseins. Diese Unsicherheit ist aktuell in Deiner Wahrnehmung Dein größter Feind und als intelligenter Feldherr tut man gut daran, seinen Gegner zu kennen. Kleiner Tipp: fang bei Dir an und bleib dabei. Sowohl Deine Sicherheit als auch Deine Gefahr sind Illusionen des Egos.

Akzeptier es einfach. Akzeptier, dass du wieder ins Büro musst. Du kämpfst dagegen an und steigert dich. Du beschreibst dein Problem sehr gut, denn diese Arbeit, die du jetzt machst, lehnst du ab. Du hast quasi Zeit geschenkt bekommen und das hat dich vollkommen ausgefüllt. Du hast nur 2 Möglichkeiten, entweder du akzeptierst diese Arbeit und wahrscheinlich lassen dann die Symptome nach, da der innere Kampf beendet ist mit der Entscheidung oder du suchst dir eine Arbeitsstelle, in der du eher etwas machen kannst, was eine Bereicherung für dich ist. Hat deine Frau auch einen Beruf?





Dr. Christina Wiesemann
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