Hallo @Agoraphobie,
danke für Deine weiteren Gedanken.
Zitat von Agoraphobie: Ich bin behütet aufgewachsen, habe viel Aufmerksamkeit bekommen, genau. Aber letztendlich habe ich mich innerlich sehr einsam und alleine gefühlt, sehr hilflos besonders im Hinblick auf den Aspekt meiner Gesundheit.
Genau so sehe ich das auch. Die Anwesenheit mehrerer Erwachsenen bedeutet leider noch lange nicht, dass man auch gesehen wird. Außerdem neigt man in dieser Gemengelage als Erwachsener dazu, Verantwortungen an die anderen Erzieher abzugeben. Wenn es blöd (oder unterschwellig sogar so beabsichtigt) läuft, verlässt sich jeder auf den Anderen und das Kind wird letztlich übersehen...
Zitat von Agoraphobie: Ich wurde auch nie beschützt von meinen Eltern. Jeder durfte mich so behandeln wie er will… Auch, wenn ich im Recht war, wurde mit mir sehr viel geschimpft und ungerecht bin ich auch sehr oft behandelt worden. Habe mich oft ausgeliefert gefühlt, schutzlos. Ich war dabei erst so jung.
Man darf hier nicht übersehen, dass ja auch Deine Eltern und Verwandten in einer ganz individuellen Art miteinander verstrickt waren (sozialer Bezug). Wie bei einem Mobile sorgt jeder für die Stabilität (Rolle) des/der Anderen und ist gleichzeitig von Diesen
gegenläufig abhängig. Auch Deine Rolle übernahm ihren Part. Wenn dieser Part aus Sicht der Erwachsenen in seiner Formung gefährdet ist, wird das als
generelle Gefährung des Bezugsgefüges (Mobile) verstanden und entsprechend manipuliert. Dieses ganze Procedere läuft idR völlig unbewusst ab - für alle Beteiligten - und wird darum auch so gut wie nie hinterfragt.
Bis jemand dieses Gefüge verlässt!Zitat von Agoraphobie: Hatte öfter Atteste und auch Fehlzeiten generell, weil ich dermaßen Probleme mit dem Darm hatte, dass ich nur noch zu Hause bleiben wollte, damit ich in Ruhe aufs Klo gehen darf. Ab da fing alles an… Krass, ich merke erst jetzt, dass da das Zuhause irgendwo schon mein Rückzugsort war!
Eine extrem bedeutende Einsicht, was die mittelbare Herkunft des Problems angeht!
Zitat von Agoraphobie: Momentan bereue ich es auf jeden Fall – ich bin überhaupt nicht selbstständig und habe sogar Angst, alleine zu sein. Verantwortung kann ich gar nicht übernehmen und auf eigenen Beinen stehen geht gerade sowieso nicht. Es fällt mir so schwer, alleine ohne Eltern zu bleiben… Ich weiß nicht, wen ich dafür beschuldigen sollte oder ob ich das überhaupt tun sollte, letztendlich wollten eigentlich alle das Gute für mich, haben mich jedoch auch sehr wütend gemacht und verletzt mit ihren Handlungen und deren Verhalten.
Krass, das stimmt. Da ist echt eine Hemmung von Entwicklung!
Ein ebenso wichtiger Lösungsschritt, dass Du das erstmal an
erkennst. Und außerdem hast Du den überaus wichtigen Aspekt bereits im Hinterkopf, dass es nun nicht darum geht, Schuldzuweisungen zu machen, sondern schlicht die Verbindungen und Entwicklungen zu
sehen. Der
nächste Schritt ist, eine
nötige Konsequenz aus dieser Einsicht zu formulieren. Ohne Hast und Aktionismus, sondern Schritt für Schritt - durchaus nüchtern planvoll. Du gehst den Weg übrigens bereits.
Zitat von Agoraphobie: Und die Kritik ist jetzt sogar viel schlimmer mit meiner Angststörung (Das machst du doch alles nur selbst, raff dich auf, tu doch nicht so, etc.).
Genau, also diese Glaubenssätze sind wirklich verankert, das ergibt Sinn. Gleichzeitig kommen noch Sätze hinzu wie Du schaffst das nicht, du kannst das nicht, komm lass mich mal, etc.
Leider folgerichtig, ja. Es hat sich bei Deinen Eltern im Laufe der Jahre so eingespielt, dass immer Du das schwache Gl. bist. Ich wage allerdings zu behaupten, dass sie das nicht mit böser Absicht taten. Eher könnte ich es mir als - etwas sarkastisch ausgedrückt - willkommenen schwarzen Peter vorstellen. Nicht nur in großfamiliären Verbünden, sondern ja auch gesamtgesellschaftlich wird sehr gerne ein Sündenbock definiert, der komfortabel als Objekt der allgemeinen Ent-Schuldigung dient. Auch das läuft idR unbewusst ab - leider auch schwerwiegenderweise bei dem Betroffenen selbst. Insofern ist Deine hier praktizierte Reflektion eine immense Hilfe für einen wirksamen Perspektivenwechsel. Indem Du es hier erkennst UND schriftlich
ausdrückst (auch als Metapher zu verstehen!)
Bedenke aber, dass Deine Eltern diese Reflektion aktuell (noch) nicht miterleben und das
eventuell - zumindest unterbewusst - auch gar nicht so wirklich wollen könnten. Auch sie benötigen in der Folge Zeit, Deine Einsichten in ihr Familienbild (und vielleicht auch Selbstbild) zu integrieren, was übrigens extrem schwierig
für sie sein könnte! Dabei spielen nämlich mit Sicherheit auch die restlichen Mitglieder des Mobiles in der alten Heimat eine mitunter entscheidende Rolle.
Zitat von moo: Nun muss die Einsicht reifen: Die bestimmende Schnittstelle zwischen Heimat und Welt, Innen und Außen, Sicherheit und Gefahr, Anhaften und Loslassen bin Ich...
Wohin ich meinen Blick lenke, sind ICH UND WELT.
Zitat von Agoraphobie: Die Einsicht verstehe ich nicht so ganz…? Also ist Heimat über all dort, wo ich bin?
Korrekt!
Wohin Du blickst ist Heimat. Du kannst schlechterdings eigentlich
nirgendwo etwas anderes finden als Dich selbst. Aber ich will jetzt nicht zu philosophisch werden...
Zitat von Agoraphobie: Ja, das ist so heftig. Das wurde wirklich in meiner stationären Therapie festgehalten, dieses Angst vor dem Erwachsenwerden. Aber niemand weiß, wie ich daraus komme und wie ich das alles besiegen soll… Da kann mir komischerweise niemand helfen.
Tatsächlich sind Einsichten und daraus folgende Absichten das AO. Und Hilfe findest Du z. B. hier im Forum, in Selbsthilfegruppen, bei (guten) Psychotherapeuten, in Büchern und - jetzt kommts: In einem Partner. Eine
harmonische Beziehung
kann ein unfassbar heilsamer Aspekt bei jeglicher psychischer Problematik sein. Aber der Partner darf dafür natürlich nicht missbraucht werden. Das
Geben in einer Partnerschaft ist ja ein mindestens so transformierendes Erlebnis wie das
Nehmen.Bitte verwende für Dich ab sofort den Begriff besiegen nicht mehr, sofern Du damit das Ende eines
Kampfes meinst. Erwachsenwerden wird gerne als ein solcher betitelt aber Du selber hast eigentlich bereits das
wahre Wesen des Erwachsenwerdens skizziert:
Zitat von Agoraphobie: ...ich will loslassen, leben, alleine sein, Verantwortung für mich und für mein Leben übernehmen, neues sehen und entdecken, reisen...
Indem Du richtigerweise die positive (und im wahrsten Sinne lebensnotwendige) Seite des Erwachsenwerdens verinnerlichst, baust Du tragfähige Brücken für Deine nächsten Schritte. Du wirst sie mit Zuversicht gehen. Bitte übernimm nicht die Dialektik Deiner Eltern, indem Du
negativ formulierst und somit immer die (vermeintlichen)
Unmöglichkeiten im Blick behältst. Bedenke:
Möglichkeiten beenden die Unmöglichkeiten.Zitat von Agoraphobie: Aber klar, ich merke die Widersprüche… Ich bin auch immer sehr geladen und wütend, weil ich ein Leben lebe, welches ich gar nicht so leben will. Aber gleichzeitig schränkt mich die Angst und die ganzen Symptome (Magen, Darm, Herzrasen, kalte Hände/Füße, Derealisation, Panik, Atemnot, etc.) so dermaßen ein, dass ich mein Leben gar nicht leben kann… Und das Leben läuft an mir vorbei und das ärgert mich massiv.
Diesen Ärger kannst Du nutzen, indem Du die Energie, die (neutral vorhanden) dahintersteht umpolst in planvolle Veränderung. Zuerst änderst Du Dein Denken, dann Dein Sprechen, dann Dein Handeln.
Um die gesundheitlichen Aspekte kümmern wir uns gerne hier weiter - natürlich nur hinsichtlich etwaiger Tipps, wo anzusetzen ist. Die bereits empfohlene Literatur ist ein wichtiger Posten. Ein guter Heilpraktiker, der sich mit der
Sanierung von Magen und Darm (dazu gehören immer auch Leber, Milz Pankreas) auskennt, kann Dir in den nächsten Monaten in wichtiger Begleiter in Hinsicht der körperlichen Heilung zur Seite stehen. Es wird etwas Geld kosten, aber das empfehle ich Dir unbedingt! Schulmedizinische Ärzte beschäftigen sich idR mit so etwas nicht - sie behandeln nur anerkannt bereits manifestierte Krankheiten und nur sehr selten die Ursachen. Auch die
Ernährung ist ein extrem wichtiger Faktor!
Habe hier keine Ängste bzgl. Umfang und Komplexität der Maßnahmen und Veränderungen. Bilde auch hier eine positive Haltung aus und nimm die Dinge in Angriff, die jetzt gerade möglich sind. Der Rest folgt automatisch. Das Ins-Tun-Kommen wird Dein Selbstbewusstsein und Deine Freude an der Eigenverantwortung stärken und so gibt eins das andere...
Zitat von Agoraphobie: Welcher Schritt? Welche Ungewissheit?
Ahh, das steht in den Anmerkungen. Ich bin auch sehr stolz auf mein Abitur und das Studium möchte ich auf jeden Fall auch abschließen… Ich will Lehrerin werden. War so kurz davor und die Angststörung nimmt mir alles weg…
Angststörung ist letztlich nur ein Begriff. Du kannst ihn terminierend oder motivierend verwenden. Es gibt insgesamt 4 Umgangsweisen mit Angst:
a) Angst vermeiden
b) Angst bekämpfen
c) Angst als Lehrer sehen
d) Angst als Illusion sehen.
Welcher Punkt spricht Dich
spontan am ehesten an?
Ich persönlich sehe aus dem bisher von Dir Gesagten eher jetzt,
aufgrund der Ängste, die Notwendigkeit zur allmählichen Loslösung vom Elternhaus in genereller Hinsicht: örtlich, geistig, perspektivisch. Nicht Hals über Kopf und radikal, aber
stetig und unaufhaltsam,
strategisch. Die Angst ver
mittelt Dir das. Die Angst
erwächst aus dem Konflikt: Wollen und (vermeintlich) nicht Können. Sie wird sich abschwächen (und letztendlich lediglich wachend zugegen bleiben, sofern nötig) und hat somit ihren Zweck erfüllt.
Zitat von Agoraphobie: Wie soll ich denn umziehen, wenn ich Panikattacken bekomme und nicht runterkomme woanders? Sonst würde mir mein Papa allerdings sogar beistehen was eine eigene Wohnung betrifft.
Ich halte Abstand, ja! Aber meine Verwandtschaft überhaupt nicht. Sie sind nahezu jeden Tag zu Besuch oder kontaktieren mich. Sie meinen es auch eigentlich nur gut, aber ich habe keine Kraft dafür… Ich kann deren Erwartungen einfach nicht entsprechen
Du
musst jetzt nicht umziehen. Doch ich möchte Dich unbedingt ermutigen, Dich mit Deinen Eltern zusammenzusetzen und im Grunde das, was wir hier besprechen, mit ihnen zu teilen. Das ganze sollte durchaus offiziell angekündigt werden im Sinne von Ich muss etwas Entscheidendes mit Euch besprechen und bitte um einen Termin unter sechs Augen. Du kannst Dir Stichpunkte notieren oder ihnen sogar vorher einen Brief aushändigen, damit sie sich vorbereiten können. Im Ganzen kommen sie ja nicht umhin, in diesem Zuge eigene Versäumnisse anzuerkennen. Je nachdem wie Deine Eltern so gelagert sind, kann das in Abwehrhaltung oder neuen Anschuldigungen münden. Doch ich kann mir das eigentlich nicht vorstellen. Eher werden sie nach einer eventuell anfänglichen Betroffenheit Deine Pläne nach Abnabelung unterstützen - Dein Dad hat sowas ja offenbar auch angedeutet.
Ein wichtiger Punkt in diesem Gespräch sollte der von Dir aufgrund der o. g. Verhältnisse
absolut notwendige Abstand zu Deinen Verwandten sein. Es
muss eine Privatsphäre für DICH gewährleistet werden - egal wie. Das ist ihr Job, nicht Deiner. Deine Aufgabe ist es, ihnen dies offen und ehrlich mitzuteilen und auch die o. g.
Gründe hierfür anzuführen. Im Idealfall werden sie selber
ihre Beziehung zu ihnen neu bewerten - denn wie gesagt - die Mobile-Figur Agora fällt ab sofort nämlich weg!
Und bezüglich deren Erwartungen: Sie haben
keinerlei Anspruch auf Erwartungen an Dich. Dafür hätten sie
selber Kinder kriegen müssen (flapsig formuliert )! Es ist absolut unakzeptabel, sich in das Leben einer lediglich verwandten Tochter einzumischen. Damit eventuell nicht klarzukommen ist ebenfalls
ihr Problem, nicht Deins!
Zitat von Agoraphobie: GABA? Hab ich noch nie gehört…
Wirst Du in dem Buch von Julia Ross erfahren - keine Sorge.
Zitat von Agoraphobie: Beim Rausgehen habe ich versucht in mich zu kehren, was ich fühle, wahrnehme, woran ich denke... Ich habe das gemacht, weil mich dein Text dazu sehr bewegt hat und ich herausfinden möchte, wieso ich so reagiere und wieso mir kein Therapeut helfen kann.
Sehr gut! Du veränderst bereits die Perspektive. Man kann eine Sache eben aus verschiedenen
Blickwinkeln betrachten und gewinnt dabei mitunter
ganz andere Erkenntnisse!
Zitat von Agoraphobie: Was ich feststellen konnte:
Zum Einen, dass wenn ich rausgehen möchte, allein der Gedanke daran, führt schon dazu, dass ich all die Symptome kriege (Herzrasen, Atemnot, Druck auf der Brust, Zittern, kalte Hände und Füße).
Woran ich denke...
Zu diesen Beitrag werde ich gerne einen separate Antwort inkl. Kontemplationsvorschlag machen. Das jedoch später...danke hier erstmal für diese wichtigen Ansätze!
Zum Schluss für heute noch: Ich würde mich freuen, wenn meine Kinder (sofern ich welche hätte) eine Lehrerin wie Dich bekämen . Jeder, der sich (wenn auch notgedrungen)
bewusst mit sich auseinandersetzt, ist in meinen Augen ein - vorsichtig formuliert - vollkommenerer Mensch . Und das gilt m. E. für nahezu alle Anwesenden hier im Forum.
Ich bitte Dich grundsätzlich, ab sofort eine Vision zu bilden, wie Du Dir nach erfolgreicher Befreiung Dein Leben ausmalst - und zwar vor dem Hintergrund, dass alles auch
wirklich so eintreten kann - (nicht muss!). Es geht um
Wünsche. Anhand der Wünsche erkennst Du
den, der sie wünscht - und dadurch zieht Mitgefühl zu Dir selber in den Geist ein.