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Hallo Juliii, die beschriebenen Probleme kommen mir leider sehr bekannt vor. Ich leide unter diesem Problem mehr oder weniger seit etwas mehr als 20 Jahren.

Zu den Grundlagen: Stress / Angst (wenn jemand weiß, wo da biochemisch ein Unterschied besteht, bitte um Kommentar) werden durch verschiedene Hormone ausgelöst bzw. begleitet. Cortisol ist eines der Hormone, das Stress erzeugt. Am Morgen ist die Cortisolkonzentration am höchsten. Bei mir sind die Stresszustände / der Reizdarm morgens in der Regel am stärksten. Die Symptome sind impulsiver Stuhlgang, oftmals Benommenheit (fühlt sich an wie leicht betrunken) und selten auch Zittern.

Soweit ich mich in dieses Thema eingelesen habe, kann man davon ausgehen, dass von derartigen Zuständen Betroffene bereits eine Reihe stressvoller Erlebnisse hinter sich hatten. Das kann der permanente Leistungsdruck sein, Mobbing, ein lebensbedrohlicher Unfall, etc. Was man leicht übersieht ist Einsamkeit. Einsamkeit ist ein sehr stressvoller Zustand.

Oftmals sind Angststörungen / Reizdarm mit anderen Krankheiten oder Störungen, wie bsp. Depressionen, Zwangsstörungen, Persönlichkeitsstörungen oder dem chronischen Erschöpfungssyndrom, vergesellschaftet.

Auch wenn man als Betroffener spürt, dass der Durchfall durch Stress ausgelöst wird, kann es sinnvoll sein erst einmal eine Nahrungsmittelunverträglichkeit bzw. Allergie auszuschließen. Dazu lässt man sich vom Hausarzt zum Internisten überweisen. Oder man wird ohnehin vom Psychiater zum Internisten überwiesen. Sollte der Durchfall stressbedingt sein, wird die Diagnose „Reizdarm“ oder falls man die Darmspiegelung stressbedingt ablehnt „Verdacht auf Reizdarm“ gestellt. Zusätzlich kann noch die Diagnose „Angststörung“ oder „Panikstörung“ gestellt werden.

Hier ein paar Tipps, aus eigener Erfahrung, wie man mit stressbedingtem Durchfall umgehen kann. Wenn ich es aus der Wohnung geschafft habe, dann sind meine Probleme gerade in Wartesituationen, bsp. in der Straßenbahn, bei der roten Verkehrsampel oder bei der Kassa im Supermarkt, am schlimmsten. Aber so wie jede Krankheit unterschiedlich verläuft, zum Beispiel auch Corona, so ist auch jede Angststörung / jeder Reizdarm individuell unterschiedlich – je nachdem wo jemand Schwachstellen hat. Gerne nutze ich zur Veranschaulichung folgende Metapher: Beim Bergwandern bekommt der eine Knieschmerzen, weil seine Knie die schwächste Körperstelle ist, und jemand anders bekommt Fersenschmerzen, weil dort dessen Schwachstelle liegt. So, nun zu meinen probierten Strategien:
1) In stressigen Situationen (bsp. beim Straßenbahnfahren) laut Musikhören mittels MP3 Spieler. Den Satz „Musik wirkt angstreduzierend“ findet man in „EinBlick ins Gehirn“ von Dieter F. Braus (3. Auflage, S. 43).
2) Auf Fernsehen, speziell auf Spielfilme, verzichten. Speziell Action- und Horrorfilme sind zu vermeiden, da es dabei zu einer Ausschüttung von Stresshormonen kommen kann. Seit ich nicht mehr Fernsehe habe ich jedenfalls kaum noch Alpträume. Anmerkung: Anregende Informationsaufnahme, wie bsp. Fernsehen, führt zu Dopaminausschüttung. Anders gesagt: Fernsehen macht süchtig. Daher werden die meisten Patienten es nicht schaffen auf Fernsehen zu verzichten, auch wenn es für erholsamen Schlaf sehr wichtig wäre.
3) Stundenlang leichte Bewegung wie Spazieren gehen. Das entspannt extrem! Kann man halt nur machen, wenn man das Haus verlassen kann und viel Zeit hat. Bezüglich Bewegung ist es vorteilhaft nahe dem Arbeitsort zu wohnen, damit man zu Fuß gehen kann, oder mit dem Fahrrad fahren. Durch leichte Bewegung wie Spazieren gehen werden Stresshormone abgebaut.
4) Zeitig aufstehen oder Termine auf späte Uhrzeiten legen, damit der Cortisolspiegel abgesunken ist bevor man rausgeht.
5) Falls die oben genannten Methoden nicht helfen, dann wird der Arzt irgendwelche Entspannungsmethoden (nach Jacobsen) oder angstlösende Medikamente (Pregabalin, Venlafaxin, Anafranil, Temesta [Tavor in Deutschland]) empfehlen. Beides hat bei mir nicht nur nicht geholfen, sondern die Symptome teilweise deutlich verstärkt. Wobei ich bei Pregabalin und Temesta einfach gar keinen Effekt verspürte. Es ist halt leider so, dass wenn man permanent an Durchfall leidet, die Medikamente eventuell schlecht vom Körper resorbiert werden. CBD Öl habe ich auch probiert – eignete sich bei mir aber lediglich als Geschmackskorrigens für Salate.
6) Begleitend zu den Medikamenten kann eine Psychotherapie ausprobiert werden. Mir hilft die Therapie zwar nicht gegen den Reizdarm, aber es tut trotzdem gut mit jemandem über seine Probleme zu reden. Hypnose kann man ausprobieren; dazu muss man allerdings hypnotisierbar sein, was wenn der Körper permanent gestresst ist, eher unwahrscheinlich ist. Ich war jedenfalls nicht hypnotisierbar, da ich mich nicht entspannen kann.
7) Schmerzreize (zum Beispiel an den Oberschenkelinnenseiten zwicken). Wenn ich früh genug erkenne, dass sich ein panikartiger Zustand ankündigt, dann schaffe ich es mittels Schmerzreizen diesen Zustand zu verhindern. Wenn die Panik einmal da ist, dann hilft nur mehr Bewegung, Bewegung, Bewegung.
Imodium akut (ein Durchfallmedikament mit dem Wirkstoff Loperamid, ein Opioid), dadurch lähmt man die Darmbewegung. Achtung: Muss man aber mit Bedacht einsetzen! Ich nehme es maximal 2 Mal die Woche, für wichtige Termine wo ich meinen Hund nicht mitnehmen darf. Kann man frei in der Apotheke kaufen oder man lässt es sich vom Arzt verschreiben. Tipp: Rezept ist bei diesem Medikament billiger. Allerdings warnen mich meine Ärzte immer vor Dauergebrauch!
9) Ein Tier, wie bsp. einen Hund nehmen. Tiere reduzieren nachweislich Stress und mir wurde von allen Pflegern, Ärzten, Psychologen und Therapeuten ein Hund empfohlen. Erst seit ein Hund bei mir einzog, konnte ich wieder ohne Schlafmittel schlafen und kann die Wohnung in stressfreien Wochen sogar ohne impulsiven Stuhlgang / Durchfall verlassen.
10) Einen Behindertenpass beantragen. Man darf dann eventuell die Behindertentoiletten auf Autobahnen benutzen. Bei Behördengängen kann das auch von Vorteil sein, bsp. um die Warteschlange zu umgehen, oder wenn man unter Benommenheit leidet, dass einem jemand hilft Formulare auszufüllen.
11) Viel Schlafen: Hier reden wir von weit mehr als zehn Stunden täglich mehrmals über den Tag verteilt. Das kann man natürlich nur im Krankenstand oder am Wochenende machen.
12) Und falls das alles nichts hilft, dann hilft Stress vermeiden. Da reden wir leider von monatelangem Krankenstand oder Invaliditätspension. Denn wenn man schon ganz am Ende ist, dann kann es sein, dass selbst der Stress „wieder gesund werden zu müssen“ zu viel ist.
Anmerkung: Leider ist Krankenstand zeitlich nur begrenzt möglich. Nach sechs bis neun Monaten Krankenstand werden die Patienten auf Druck vom Chefarzt meist wieder gesund geschrieben, obwohl die gesundheitlichen Probleme unverändert bestehen. Danach landet der Patient sehr häufig in der Arbeitslosigkeit. Gerade Arbeitslosigkeit ist ein sehr (!) stressiger Zustand, weil auf Arbeitslose von der Arbeitslosenversicherung ein harter Druck ausgeübt wird. Nötigungen, Drohungen und Demütigungen gehören am Arbeitsmarktservice zum Standardrepertoire. Zusätzlich wird man von den Politikern gerne als „arbeitsunwillig“ und als „Schmarotzer“ bezeichnet. Ohne meinen Behindertenpass hätte ich diese Zeit wohl kaum überlebt. Der Behindertenpass und die entsprechenden Gutachten haben mir insofern geholfen: Erstens musste ich mich nur auf gesundheitlich passende Arbeitsstellen bewerben und zweitens war während der Coronapandemie die Toilette am Arbeitsmarktservice eigentlich gesperrt. Nach einer erniedrigenden Diskussion mit dem Portier durfte ich dann aber aufgrund meiner Behinderung ausnahmsweise doch auf die Toilette.
13) Wichtig zu wissen: Permanent zu viel Stress begünstigt Depressionen inklusive Suizid. Auch hier hilft ein Hund extrem. Seit ich den Hund habe, habe ich keine Suizidabsichten mehr, zumindest während der Hund in meiner Nähe ist. Deswegen sollte man sich einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz suchen, wo ein Hund erlaubt ist.

Man soll sich vom stressbedingten Durchfall nicht mehr einschränken lassen als nötig. Am besten immer ein (feuchtes) Toilettpapier mitnehmen. Im schlimmsten Fall geht man mal hinter einer Hecke oder im Park. Seit ich einen Hund habe, weiß ich, dass das ohnehin mehr Leute machen als man denkt. Einkaufen fährt man am besten in ein Einkaufszentrum wo es Toiletten gibt, oder man sucht sich einen Supermarkt wo man in der Nähe eine Toilette hat. Gar nicht einkaufen gehen könnte schlussendlich zu einer Vermeidungsspirale führen. Deswegen gehe ich mindestens einmal die Woche einkaufen, wobei ich mir dazu einen ganzen Vormittag reserviere. Was man versuchen kann ist, sich für das Einkaufen oder andere stressbehaftete Ereignisse zu belohnen – das macht man ohnehin viel zu wenig. Weil dann wird die stressbehaftete Tätigkeit schlussendlich positiver besetzt.

Bezüglich Arbeitsplatz: Hier empfehle ich das Büro. Erstens weil man fast immer auf die Toilette kann. Zweitens weil der Arbeitsalltag relativ gleich ist, wodurch man weniger gestresst wird. Drittens ist im Büro oftmals ein Haustier erlaubt. Da man natürlich überdurchschnittlich viel Zeit auf der Toilette verbringt und daher eine geringere Arbeitsgeschwindigkeit hat als die Kollegen, kann auch hier der Behindertenpass helfen die Arbeitsstelle zu behalten. Wenn zusätzlich zum Reizdarm noch Benommenheit hinzukommt, so wie von Juliii beschrieben, dann kann es sein, dass bereits Arbeitsunfähigkeit vorliegt. Aber auch hier: Benommenheit im Büro ist weit weniger tragisch als auf einer Baustelle oder in einem chemischen Labor. Denn: Ein Rechtschreibfehler oder ein falsch verschicktes e-mail sind meist folgenlos verglichen mit Arbeitsunfällen auf einer Baustelle.





Dr. Christina Wiesemann
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